Am Dienstag, 28.5.2024, von 12-14 Uhr nahmen rund 70 Lehrkräften an einer Podiumsdiskussion mit Silke Müller teil. Durch die Fortbildungsveranstaltung führte Karsten Müller von der Hessischen Lehrkräfteakademie (Dezernat II.3 Medien).
Unter dem Eindruck des Elternabends am Vortag habe er, so begrüßte der kommissarische Schulleiter Tobias Graf die Gäste, sofort überprüft, welche Apps und Internetdienste seine Kinder nutzen, und diese gefragt, ob sie schon Erfahrungen mit negativen Inhalten gemacht hätten. Erfreulicherweise sei dies nicht der Fall gewesen.
In ihrem Impulsvortrag forderte Silke Müller zu einer radikalen Reform des Schulsystem auf, das sie mit einer Ruine verglich: Die Bildungslandschaft müsse entschlackt, vereinheitlicht und an gemeinsamen Werten orientiert werden. Entscheidungsprozesse müssten von Legislaturperioden entkoppelt werden. Außerdem müssten verschiedene Akteure aus Schule, Verwaltung, Wirtschaft und Politik stärker in die Bildungskette einbezogen werden.
Kinder und Jugendliche seien nicht nur erheblichen Bedrohungen im Netz ausgesetzt. 63,7 Stunden verbrächten sie im Durchschnitt wöchentlich im Netz. Das berge ein hohes Suchtpotential und führe zu Verzögerungen in der sprachlichen und motorischen Entwicklung. Auch die KI könne nicht länger ignoriert werden. Vielmehr müsse Schule sie akzeptieren und in den Schulalltag integrieren. Mit einer Social-Media-Sprechstunde an ihrer Schule in Hatten versuche sie, der Schülerschaft ein unverbindliches Angebot zu machen, um Probleme zu besprechen. Auch hätten sich Hausaufgaben längst selbst abgeschafft, denn mit KI wie Gauth loder Dall-E ließen sich diese stilsicher erstellen.
Für Lehrerinnen und Lehrer müsse es deshalb eine klare Fortbildungsverpflichtung geben, damit sie ihre Schülerinnen und Schüler gezielter unterstützten können. Lehrkräfte sollten zum Beispiel Plattformen und Allianzen wie Klicksafe.de, Saferinternet.at, DigitalSchoolStory und Hackerschool.de kennen, die sie zu Rate ziehen können, und wissen, welche externe Experten sie zur Unterstützung heranziehen können. Die Lehrerrolle müsse sich weg vom Wissensvermittler und hin zum Begleiter und Beschützer entwickeln.
Schließlich müssten auch die Eltern mit ins Boot geholt werden, die sich ebenfalls fit im Umgang mit der digitalen Welt ihrer Kinder machen müssen, um dann mit ihren Kindern Verträge zur Smartphone-Nutzung abschließen und diesen als vertrauenswürdige und kompetente Ansprechpartner zur Verfügung stehen zu können.
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion bezogen im Anschluss Akteure der Bildungs- und Erziehungsarbeit Stellung zum Thema „Smartphone in Kinderhand“: Katrin Seyfarth (Leiterin Pädagogische Unterstützung beim Staatlichen Schulamt Bebra) betonte, wie wichtig es dem Schulamt wie dem Kultusministerium ist, Lehrkräfte auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Deshalb habe man auch gern die Veranstaltungen mit Silke Müller unterstützt. Mit pädagogischen Tagen an Schulen, überregionalen Fachtagen, den Fachberatern für Medien an den Schulämtern und der Schulpsychologie halte man bereits eine breite Palette an Angeboten vor. Der Fortbildungsleitgedanke für Lehrkräfte stehe demnächst auf der Agenda.
Viele Kinder hätten schon ab der 2. Klasse ein Smartphone inklusive WhatsApp und Snapchat, TikTok sei erst ab Klasse 5 präsenter, so berichtete Schulleiterin Caroline Mühr aus der Grundschule „Am Brunnen vor dem Tore“ (Bad Sooden-Allendorf). Da in der Schule Handys verboten seien, komme es in der Freizeit und am Wochenende zu negativen Erlebnissen, die dann in die Schule getragen würden. Auch Karsten Vollmar hält das Handyverbot an der Gesamtschule in Schenklengsfeld für sinnvoll. Für den Schulleiter bedeutet Digitalisierung nicht nur, dass verschiedene Endgeräte im Unterricht genutzt werden. „Die Aufklärung über Gefahren im Netz sind das eigentlich Spannende.“ Als Fachberater für politische Erziehung am Staatlichen Schulamt Bebra, so Vollmar, habe er in letzter Zeit zunehmend mit Anfragen zu tun, die sich auf rechtsextremistische Inhalte wie Hakenkreuze oder rassistische Schmähgesänge bezögen. Hier helfe den Betroffenen nach seiner Erfahrung insbesondere aktives Zuhören, um das Erlebte zu verstehen und zu verarbeiten.
Armin Bahl von der Jugendförderung des WMK hält die präventive Arbeit an Schulen für sehr wichtig und sieht Vorteile darin, als Externe in die Schule zu kommen. Die Schülerschaft höre außerschulischen Experten eher zu. Oft habe er aber den Eindruck, nur Pflaster für eine viel zu groß gewordene Wunde zu verteilen. Für mehr Nachhaltigkeit sei die Politik aufgefordert, mehr Mittel und Personal als bisher zur Verfügung stellen.
Dirk Rudolph, der nicht nur Kollege an der BGS und Leiter des Medienzentrums WMK ist, sondern wie Armin Bahl auch für das Mediennetzwerk ClickSmart teilnahm, zeigte sich erfreut über den hohen Anteil von Anmeldungen des BGS-Kollegiums. „Dies belegt nicht nur, wie sehr uns als Lehrpersonal die Thematik unter den Nägeln brennt, sondern auch, welch hohen Stellenwert die Schulleitung ihr beimisst. Wir sind uns längst bewusst, dass wir die Fäden nicht mehr in der Hand halten“, so Rudolph, „die Lehrerausbildung muss sich ändern, und es muss überlegt werden, ob wir fachlich abspecken können zugunsten von mehr Bildung als Vorbereitung für eine ungewisse Zukunft.“
Die (strafrechtliche) Perspektive der Polizei war durch den Jugendkoordinator Alexander Först vertreten. Der Vater zweier Töchter, die unterschiedlich medienafin seien, weiß, dass Eltern die eigene Fehlbarkeit bewusst ist, sie aber immer wieder auf digitale Gefahren hingewiesen werden müssen, denn „Missbrauch im Netz gibt es leider auch bei uns im Werra-Meißner-Kreis.“
Die Perspektive der Eltern schilderte Joachim Damen-Lux (Vorsitzender Elternbeirat WMK), der sich unter anderem erschüttert davon zeigte, dass der Krieg an der ukrainischen Front per live-Schalte Kindern aufs Smartphone geschickt werde. Als Erziehungsberechtigter zweier Kinder sei er oft wütend und frustriert darüber, dass er sich nicht mehr kompetent in der Welt der Kinder fühle. Er sei dankbar für die vielen nützlichen Tipps zum Schutz vor Gefahren im Netz, für die stete Unterstützung des Schulamts und der Schulpsychologie und den Lehrkräften dafür, dass sie Lehrer sind.
Luca Schneider (Vorsitzender Schülervertretung WMK) hätte sich insbesondere in der Corona-Zeit mehr Unterstützung, Beratung und Aufklärung zur Nutzung des Internet gewünscht. Medienkompetenz habe er autodidaktisch nach dem Prinzip „Try and error“ erworben. Deshalb müsse schon in der Referendarausbildung der Umgang mit digitalen Medien stärker thematisiert werden. Schneider zeigte Verständnis für den Wunsch der Schulen nach mehr zwischenmenschlicher Kommunikation, hält aber ein Handyverbot für wenig zielführend, zumal es oft genug von den Lehrkräften selbst nicht konsequent eingehalten werde. Besser sei es, einen gesunden Mix anzustreben, der Kommunikation trotz Smartphone ermöglicht und so die reale mit der digitalen Welt verbindet.
Die Veranstaltung schloss mit einem Konsens aller Anwesenden, dass es höchste Zeit ist, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, um Kinder und Jugendliche vor den Gefahren im Netz zu schützen und jungen Menschen diejenigen Flügel zu verleihen, die sie für die Gestaltung unserer digitalen Zukunft benötigen.
Dr. Claudia Nitschke